Methodenlehre und Statistik sind ein fester Bestandteil im Curriculum der sozialwissenschaftlichen Lehre. Dennoch gehören sie nicht zu den uneingeschränkten Lieblingsfächern der Studierenden. Gleich zwei Digital Fellowships sind daher aktuell bestrebt, mit ihrer Lehre mehr an die Lebensrealität der Studierenden zu rücken und ihre Inhalte auf ansprechende Art zu vermitteln. Im Interview mit unseren Digital Fellows erfahren Sie mehr über zwei unterschiedliche Ansätze des mobilen Lernens in den Sozialwissenschaften.
„Mobile Statistics“ und „Sozialwissenschaftliche Methoden 2go“ – zwei Ansätze um Studierenden die Methodenlehre im Bereich der Sozialwissenschaften schmackhaft zu machen
Lernen mit dem Smartphone ist für unsere beiden in der aktuellen Ausgabe vorgestellten Digital Fellowships der Ansatz, um ihre Lehre im Fachbereich Sozialwissenschaften weiterzuentwickeln. Das Tandemfellowship von Professorin Dr. Heike Greschke und Professorin Dr. Natalia Menold möchte eine Lernorte-App entwickeln, in welcher die Studierenden eigene Geschichten rund um die Anwendung sozialwissenschaftlicher Methoden für physische Orte in Dresden sammeln und somit Methodenlehre erfahrbar machen. Sören Much setzt seit einigen Jahren eine Selbstlern-App im Fach Statistik ein. In seinem Fellowship möchte er das gut genutzte Selbstlernangebot um Lernvideos erweitern und in ein komplexes Flipped-Classroom-Arrangement integrieren. In unserem Interview erklären diese Digital Fellows, wie sie mit ihren Konzepten das Erlernen sozialwissenschaftlicher Methoden verbessern können.
Warum braucht es neue Konzepte, um die sozialwissenschaftliche Methodenlehre für die Studierenden attraktiv zu machen?
S. Much: Ich glaube, die Methodenlehre hat gerade in den Sozialwissenschaften ein grundlegendes Attraktivitätsproblem. Studierende entscheiden sich in der Regel nicht wegen der Methodenlehre für ein Studienfach. Mein Eindruck ist oft, dass sie sich trotz einer schwerpunktmäßig quantitativen Methodenlehre für ihr Fach entscheiden. Dadurch gibt es Motivationsprobleme und teilweise fehlende mathematische und technische Vorkenntnisse, die in der Präsenzlehre nicht ausreichend aufgeholt werden können, auch weil die Studierenden in dieser Hinsicht sehr heterogen sind. Dieses Problem wird man auch mit neuen Konzepten nicht lösen können, aber man kann Studierenden mit solchen Schwierigkeiten durch neue (digitale) Werkzeuge helfen, diese Hürden zu überwinden. Und die Verwendung solcher Werkzeuge macht dann ganz neue Lehrkonzepte möglich, von denen alle Studierenden profitieren können.
Prof. Greschke: Unser Konzept der Lernorte richtet sich an Studienanfänger*innen aus verschiedenen BA-Studiengängen (u. a. Soziologie, Politik- und Kommunikationswissenschaften, Lehramtsstudiengänge), die gemeinsam in einer Ringvorlesung an die Methoden der empirischen Sozialforschung herangeführt werden. Wir haben also in dieser Vorlesung gleich drei Herausforderungen zu bewältigen: Wir müssen ein interdisziplinäres Angebot offerieren, das alle Studierende mit ihren sehr unterschiedlichen Interessen interessiert und wir müssen es schaffen, einerseits abstrakte Inhalte, wie erkenntnistheoretische Positionen zum Begriff der Wirklichkeit anschaulich und für Studienanfänger*innen nachvollziehbar darzustellen; andererseits praktisches Wissen darüber zu vermitteln, was es heißt, empirisch zu forschen und dabei methodisch vorzugehen. Wir wissen, dass diese Vorlesung eine große Hürde für den Studieneinstieg bildet, die viele Studierende erst beim zweiten oder dritten Anlauf schaffen. Das ist die Ausgangssituation, die uns veranlasst hat, nach neuen Konzepten und zusätzlichen Unterstützungsmöglichkeiten zu suchen, um den Studieneinstieg zu erleichtern und Interesse für das nur auf den ersten Blick langweilig erscheinende Thema „Methoden“ zu wecken.
Wie erleichtern Ihre Konzepte den Erwerb sozialwissenschaftlicher Forschungskompetenzen?
S. Much: Ziel unseres Konzepts ist es, der Heterogenität und der großen Anzahl der Studierenden zu begegnen, indem wir ein flexibles und individuelles Übungskonzept anbieten. Das ist nötig, weil die Inhalte recht stark aufeinander aufbauen und der zeitliche Rahmen mit 10 Leistungspunkten in einem Semester recht eng ist. Einige Studierende haben dann Schwierigkeiten und können Lücken nicht mehr selbstständig aufholen. Selbststeuerbare und recht niederschwellige Übungsformen erleichtern das Aufholen. Außerdem hilft ein Flipped-Classroom-Arrangement, die reine Vermittlung von Wissen zum Teil ins Selbststudium zu verlagern. Das ermöglicht dann eine interaktivere Lehrform in der Präsenzlehre – Lücken werden dann sichtbar und man kann besser auf die Studierenden eingehen. Gleichzeitig bieten interaktivere Übungsformen, z. B. Fallbeispiele mehr Gelegenheit für Diskussionen oder Bezüge zu Forschungsthemen, wovon auch interessiertere Studierende profitieren.
Prof. Greschke: Das zentrale Moment in unserem Lernorte-Konzept ist das forschende und lebensweltliche Lernen. Was heißt das? Zunächst muss ich erklären, was ein Lernort ist. Ich zitiere hierfür aus dem Wiki, das wir im derzeit laufenden Seminar zur Lernort-Konzeption mit Soziologie-Studierenden erstellt haben. Dort heißt es: „Lernorte sind reale Orte außerhalb des Hörsaals, die mit Hilfe einer App Inhalte aus den Lehrveranstaltungen an dem jeweiligen Ort digital verknüpfen. Dabei sollte der Lernort dem Lernziel dienen und einen Mehrwert gegenüber einer reinen Information schaffen“. Wir überlegen uns also im Projekt und im Seminar welche der Methoden bzw. Fragen der empirischen Sozialforschung, die in der Ringvorlesung behandelt werden, sich an einem Lernort gut vertiefen lassen. An welchem Ort im Stadtraum Dresden könnte das sein und welche Aufgabenstellung wäre hierzu passend? Dann schauen wir uns den jeweiligen Ort genau an, erstellen die Konzepte dafür, testen, ob die Aufgabenstellungen tatsächlich an dem Ort gut funktionieren und übertragen sie dann in die Lernorte-App. Die Studierenden, die sich die App auf ihrem Tablet oder Smartphone installieren, erhalten ein Signal, sobald sie sich in der Nähe eines Lernortes aufhalten und können dann gleich loslegen. Wer sie installiert und aktiviert, erhält über die App Übungsanleitungen z. B. für die Methode „teilnehmende Beobachtung“, wenn er oder sie am Hauptbahnhof vorbeikommt und gerade Lust und Zeit hat, die Methode kennenzulernen und selbst auszuprobieren. An der Kreuzung Ecke Görlitzer-, Louisen- und Rothenburger Straße informiert die App darüber, dass man sich am „Assi-Eck“ befindet und kann sich hier mit erkenntnistheoretischen Positionen zum Empirie- und Wirklichkeitsbegriff auseinandersetzen. Auch das Rathaus, die Frauenkirche, eine Moschee, die Pragerstraße und ein Einkaufszentrum gehören zu den bisher im Projekt definierten Lernorten. Und ich hoffe, dass im Laufe der nächsten Jahre noch einige hinzukommen werden.
Warum gerade Lernen mit dem Smartphone?
S. Much: Das Smartphone ist aus meiner Sicht gar nicht das zentrale Gerät für die Nutzung unserer neuen Angebote – die Videos und auch die App Teachmatics, die auch als Webseite verfügbar ist, sind geräteunabhängig. Smartphones haben aber den Vorteil, dass die meisten sie immer dabeihaben, wenn sie z.B. in der Bibliothek lernen. Während der handschriftlichen Bearbeitung einer Aufgabe oder einer Analyse im Statistikprogramm am PC kann auf die Videos oder die App zugegriffen werden, wenn es mal hakt. Und man hat sofort Hintergrundinformationen zur Wiederholung parat. Manchmal wird der Eindruck erweckt, dass das Smartphone das Lernen „to go“ ermöglicht, also mal schnell zwischendurch oder in der Straßenbahn. Ich sehe dann eher die Gefahr der „Illusion des Lernens“ – man konsumiert die Inhalte, kann vielleicht sogar gut folgen und hat den Eindruck, etwas zu lernen. Aber am Ende kann das „Gelernte“ nicht selbstständig angewendet werden. Bei den Videos versuchen wir dem entgegenzuwirken, indem im Verlauf jedes Videos 3-4 kurze Fragen zu beantworten sind.
Prof. Greschke: Nicht das Gerät ist entscheidend. Man kann auch ein Tablet nehmen. Der Kern unseres Konzeptes ist das mobile Lernen an unseren Lernorten. Das Lernorte-Konzept schließt unmittelbar an die Themen der Ringvorlesung an und offeriert den Studierenden eine Möglichkeit der praktischen Vertiefung im Selbststudium, die lebensweltlich verankert ist und im didaktischen Modus des praktischen, auf Selbsterfahrung beruhenden Lernens beruht. Die Lernortbegehung kann allein oder in Gruppen erfolgen, sie wird flankierend in den Tutorien vor- bzw. nachbereitet. Die Erfahrungen der Studierenden, ihre Fragen, Probleme und Aha-Erlebnisse können von dort gesammelt an die Dozierenden zurückgespielt und in der Vorlesung aufgegriffen werden.
Welche Rückmeldungen von den Studierenden zu den neuen Lehrkonzepten und Lernangeboten haben Sie bereits erhalten?
S. Much: Unser überarbeitetes Lehrkonzept soll eigentlich im Wintersemester 2020/21 zum Einsatz kommen. Pandemiebedingt müssen wir noch einmal neu planen, aber die Entwicklung der neuen Lehrangebote kommt im Grunde genau zu richtigen Zeit. Wenn die Präsenzlehre nur eingeschränkt stattfinden wird, können wir das ganze durch die Selbstlernangebote abfedern. Und für Lehrveranstaltungen per Videokonferenz ist das Flipped-Classroom-Konzept auch besser geeignet als ein gemeinsames Rechnen in der Übung. Wir haben aber auch schon am Ende des letzten Wintersemesters die ersten Videos für die Studierenden freigeschaltet und liefern jetzt im Sommer weitere Videos nach, deren Produktion sich verzögert hat. Das können die Studierenden dann zur Vorbereitung auf die Wiederholungsprüfung nutzen. In kurzen Evaluationen haben wir sehr positive Rückmeldungen bekommen und auch den Wunsch, das ganze auszuweiten. Genauso ist der Einsatz der App „Teachmatics“ seit 2016 sehr beliebt. Das stimmt mich optimistisch, was die Bereitschaft der Studierenden angeht, die Angebote zu nutzen und das Selbstlern-Konzept mit Leben zu füllen. Man darf aber auch nicht vergessen, dass das Lernen im „echten Semester“ etwas anderes ist als in der Prüfungsvorbereitung.
Prof. Greschke: Wir sind derzeit noch im Stadium der Konzeptentwicklung, werden nun aber in der nächsten Woche mit der technischen Realisierung beginnen und planen zum Abschluss des Seminars auch noch Probebegehungen, bevor die Lernorte dann im Wintersemester erstmals den Studierenden in der Ringvorlesung angeboten werden. Ich kann also leider noch keine Erfahrungen der Zielgruppe berichten. Das Engagement der Studierenden, die mit mir im Seminar die Lernorte entwickeln, ist allerdings ausgesprochen groß. Sie sind äußerst kreativ und haben richtig gute Ideen! So dass ich zum einen daraus schließe, dass das Konzept der Lernorte Studierende durchaus überzeugen kann und zum anderen finde, dass sich das Projekt allein schon deshalb gelohnt hat, weil es so viel kreative Energie bei den teilnehmenden Studierenden freigesetzt hat.